Unfallopfer erzählt: Totenstille in der Aula

Neuenrader Nino Arra macht Realschüler betroffen. „Crashkurs“ der Polizei erreicht sein Ziel

Balve/Neuenrade. Eindrückliche Bilder, schockierende Erlebnisse, die die Jugendlichen tief bewegten. Mit der Aktion „Crashkurs“ war die Polizei am Donnerstag in der Balver Realschule zu Gast. Dabei geht es bewusst um Emotionen, weniger um Fakten.
Wie lang ist der Bremsweg bei welcher Geschwindigkeit? Wie viele Meter Blindflug über die Fahrbahn kostet schon ein nur kurzer Blick aufs Smartphone? Wie verändern Alkohol oder Drogen die körperliche Leistungsfähigkeit und damit auch Fahrtüchtigkeit? All das war am Vormittag in der Schulaula nicht das Thema. Nicht direkt zumindest.

Das alles wissen die Jugendlichen bereits überwiegend, lernen es spätestens in der Fahrschule, sagt Andreas Filthaut, der bei der Polizei im Märkischen Kreis den Bereich Verkehrsunfallprävention und Opferschutz leitet. „Wir wollen mit dem Tag heute, mit unseren Schilderungen, in die Köpfe der jungen Leute, sie emotional berühren. Dass sie an diese Geschichten denken, an einen jungen Mann zum Beispiel, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, sein Leben ganz neu organisieren muss, sogar Freunde verloren hat. Und dass sie dann entsprechend vorsichtiger fahren, sich vielleicht sogar trauen, aus einem Wagen auszusteigen, wenn der Fahrer unverantwortlich rast.“
Knapp 120 Schülerinnen und Schüler aus den jeweils zwei Klassen des neunten und zehnten Jahrgangs der Balver Realschule waren am Vormittag zum „Crashkurs“ der Polizei zusammengekommen. Und die vorgetragenen Geschichten – das sah und hörte man sofort – haben die jungen Leute getroffen und bewegt: Zeitweilig herrschte so etwas wie Totenstille – vor allem als der Querschnittsgelähmte die Geschichten seines Unfalls erzählte, der sein ganz Leben auf den Kopf stellen sollte.

Der Mann im Rollstuhl

Nino Arra aus Neuenrade hatte vor einigen Jahren unverschuldet einen Unfall auf seinem Motorrad, seitdem ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Von dem eigentlichen Hergang wolle er bewusst nur knapp erzählen, bereitete die Schülerinnen und Schüler vielmehr auf zutiefst persönliche und emotionale Einblicke in sein Leben nach dem Unfall vor. Wie er nach dem Aufwachen im Krankenhaus – mit mehreren Tagen die für ihn komplett im Dunklen lagen – seinen Körper vorsichtig auf Verletzungen abtastete. Wie er sich in der Reha zurück ins Leben kämpfte, vor allem aber in Bewegungsabläufe, die nun sein neues Leben, in einer neuen, rollstuhlgerechten Wohnung, prägen würden. Und das Schlimmste: kalte, verachtende Blicke von Passanten, und angebliche Freunde, die sich nach und nach aus seinem Leben zurückzogen. In die Totenstille hinein schilderte er sein Empfinden: „Das Einzige, was mich wirklich am Leben erhält, sind meine zwei Kinder.“

Die Notfallseelsorgerin

Eine andere Perspektive brachte die ehrenamtliche Iserlohner Notfallseelsorgerin Iris Lemmer ein. Sie berichtete, wie sie nicht nur Unfallopfern und deren Angehörigen, der Familie eines Menschen, der Suizid begangen hat, beisteht. Sondern auch Menschen, die unbeabsichtigt und unverschuldet im Straßenverkehr einen anderen schwer verletzt oder sogar getötet haben. Und diese Erfahrung auch ihr Leben lang nicht mehr vergessen können. Lemmer: „Wir Notfallseelsorger bleiben länger als alle anderen bei den Betroffenen. Die Anderen helfen dem Körper, wir sind für die Seele der Menschen da.“

Die Retter

Weiterhin sprachen – unterstützt von anschaulichen Bildern von Einsatzorten – auch noch ein Feuerwehrmann, Polzisten und eine Notärztin zu den Teenagern. Sie schilderten allgemein ihre Arbeit und veranschaulichten immer einen besonders prägenden Fall aus ihrem Dienst.
Auch Schulleiterin Nina Fröhling zeigte sich in ihren Dankesworten am Schluss an alle Beteiligten „tief berührt. So ein bisschen fehlen mir jetzt gerade die Worte.“
Vielen Teilnehmern des „Crashkurses“ auf Seiten der Schülerschaft ging es sicher nicht anders. Man setzte sich danach mit den Lehrern noch in den einzelnen Klassen zusammen, um über das Gehörte zu reden, Erfahrungen und Emotionen auszutauschen. „Wir wollen die Schüler jetzt damit nicht alleine lassen“, sagte Nina Fröhling im Anschluss an die Vorträge.

Der Organisator

Polizeibeamter Andreas Filthaut lobte die Jugendlichen, die sich auf diese nicht einfache Veranstaltung eingelassen hatten, ihr aufmerksam gefolgt waren und sich sehr davon haben bewegen lassen. Bei früheren Veranstaltungen sei es auch schon vorgekommen, dass einzelne Schüler den Raum verlassen hätten, weil sie den Schilderungen nicht mehr habe folgen können. Für diese stehe dann aber auch sofort jemand aus dem Crashkurs-Team bereit.

Drucken